Die Wikinger

"Hunderte von Köpfen mit Hunderten von Zungen könnten nicht wiedergeben, was alle Menschen Irlands, ob Männer oder Frauen, ob Laien oder Priester, alt oder jung, adlig oder nicht, gemeinsam an Not, Bedrängnis und Unterdrückung durch diese rücksichtslosen, grimmigen, fremden und durch und durch heidnischen Menschen erlitten hatten..."

So berichtet der aus dem 12. Jahrhundert stammende irische Epos "Cogadh Gáedhel re Gallaibh", zu Deutsch "Krieg der Iren gegen die Fremden". Nur lagen zu der Zeit, in der dieses Werk entstand, die ersten Einfälle von Wikinger schon über 300 Jahre zurück; die tatsächlichen Begebenheiten wurden darin übertrieben und verfälscht....

Von einem ersten Wikingervorstoß nach England wird bereits aus dem Jahre 787 berichtet: eine Chronik erzählt von mordenden und plündernden Nordmännern an der Küste von Dorset. Besonders schienen die Wikinger von den Reichtümern der Klöster angezogen zu werden: anno 795 wird das Kloster Iona erstmals angegriffen, 801 ein zweites und 806 gar ein drittes Mal. Beim letzten Angriff sterben 68 Mönche. Die Überlebenden geben daraufhin das Kloster auf und verlaßen unter Führung ihres Abtes Cellach die Insel und gründen ein neues Kloster in der heutigen Grafschaft Meath.

Die Angreifer kamen aus dem Nichts und verschwanden genauso schnell wieder. Warum die Wikinger in dieser Zeit mit ihren Raubzügen begannen, liegt bis heute im Ungewissen. Man vermutet, daß die Herkunftsregionen der Wikinger von einem starken Bevölkerungszuwachs betroffen waren und die Nahrungsmittel knapp wurden. Weitere innenpolitische Auseinandersetzungen hätten einen Teil der Bevölkerung dann dazu gebracht, eine neue Heimat außer Landes zu suchen oder zumindest sich ihr Leben durch Beutezüge in Übersee zu sichern.

Raubzüge in Britannien und auf dem europäischen Festland gehörten zu dieser Zeit beinahe schon zum Tagesgeschehen. Dank ihrer flachen Drachenboote konnten die Normannen nicht nur in die Küstenregionen einfallen, sondern auch über Flußläufe bis weit ins Landesinnere hinaufrudern. So plünderten sie gar eines Tages Paris, welches sie über die Seine erreichten.
Die Normannen erreichten große Teile Westeuropas, die nordatlantischen Inselwelt -von den Shetland-Inseln über Island und Grönland bis hin zu Neufundland auf dem amerikanischen Kontinent- aber auch der Mittelmeerraum und Osteuropa bis hin zur Wolga wurde nicht vor ihren Invasionen verschont.

Bis 830 waren Irland und Britannien nur das Ziel mehr oder weniger aufwendig geplanter Raubzüge. Diese Raubzüge wurden hauptsächlich von norwegischen Wikingern durchgeführt; die dänischen Wikinger beschränkten sich in dieser Zeit hauptsächlich auf die südliche Nordsee und das Gebiet des Ärmelkanals. 841 errichteten die Norweger erstmals Befestigungen auf irischem Boden, hauptsächlich zum Schutz vor Angriffen irischer Stämme. Eine dieser Festungen -die Wikinger selbst nannten sie longphorts- wurde bei Annagassan in der Bucht von Dundalk errichtet, die andere an einer Furt über den Liffey, an der Stelle des heutigen Dublins.
Ausgrabungen und wissenschaftliche Nachforschungen aus dieser Zeit revidieren das Bild, daß die Wikinger nur barbarische Eroberer und geübte Seefahrer waren. Ihre befestigen Hafenanlagen bauten sie schnell und systematisch aus. Befestigte Wegenetze wurden angelegt und Flutwälle und Wellenbrecher zum Schutz vor Hochwasser gebaut, während der Großteil der irischen Gesellschaft noch immer in einer bäuerlichen Gesellschaft lebte.

Im Jahre 851 notieren irische Annalen die Ankunft von dänischen Wikingern. Es sollte sich aber zeigen, daß diese alles andere als gute Freunde der schon anwesenden norwegischen Wikinger waren. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen beiden Gruppen. Im selben Jahr lassen sich die Dänen auch auf der Insel Sheppey in der Themsemündung nieder. Von dort organisieren sie zahlreiche Überfälle auf das benachbarte englische Territorium und insbesondere auf London und Canterbury.
In den Folgejahren kommt es in England zu schweren Auseinandersetzungen: ein Großteil der Insel steht bereits unter wikingischer Herrschaft, als es König Alfred von Wessex -Wessex war zu dieser Zeit das größte englische Königreich- gelingt, die Wikinger aus seinem Land zu vertreiben. Um diesen Sieg aber weiterhin politisch zu sichern, muß er in Verträgen mit dem normannischen Fürst Guthrun diesem etwa 2/3 des englischen Territoriums zugestehen.

Zu dieser Zeit waren Irland und Schottland noch Bestandteil des norwegischen Königreichs von Harald Schönhaar. 937 gelingt es dann dem englischen König Aethelstan die vereinigten dänischen und norwegischen Truppen (aus Irland und Schottland) vernichtend zu schlagen. 980 versuchen die Wikinger von Dublin aus, ihr Herrschaftsgebiet in Irland zu erweitern. Sie werden aber von den Kelten in der Schlacht zu Tara geschlagen....

Im Laufe des 9. und 10. Jahrhunderts entwickeln sich währendessen die beiden Festungen Limerick und Dublin zu den wichtigsten Wikingersiedlungen auf der Grünen Insel. Im Gegensatz zu früher kommen die Wikinger nun tatsächlich mit festen Siedlungsabsichten nach Irland. Der Handel stellt zu dieser Zeit die Haupteinnahmequelle der Wikinger dar. Ein weitverzweigtes Netz von Handelsrouten reicht von Grönland bis tief in den eurasischen Kontinent hinein. In Irland entstehen neben Dublin und Limerick noch eine Reihe weiterer befestigter Handelsposten, die sich schnell zu größeren Siedlungen aufschwingen. Heute erinnern noch viele Städtenamen an ihre wikingische Herkunft: Waterford (Vadrefjörthur), Wexford (Veigsfjörthur) oder Wicklow (Víkingaló).

Die Wikingergesellschaft in diesen Orten ist bemerkenswert komplex und fortschrittlich: es gibt nicht nur Seefahrer und wohlbewaffnete Krieger, sondern auch Handwerker und Händler in eigenen Stadtvierteln. In Dublin sollte auch die erste irische Münze entstehen: 997 läßt König Sigtrygg Seidenbart erstmals Münzen nach angelsächsischem Vorbild anfertigen.

Ende des 10. Jahrhunderts gelingt es dem dänischen König Sven Gabelbart zusätzlich zu dem ohnehin bereits von ihm kontrollierten britannischen Süden, die Kontrolle über die ehemals norwegischen Gebiete in Schottland und Irland zu erhalten. Damit wendet sich das Kriegsglück endgültig gegen die Engländer: in der Schlacht von Maldon wird das englische Heer 991 vernichtend geschlagen. 1014 versuchen die Wikinger ein letztes Mal, Irland komplett zu erobern. Sie werden aber in der Schlacht von Clontarf vom irischen Hochkönig Brian Boru besiegt, ihre Expansionspläne in Irland damit endgültig gestoppt. 1016 fällt schließlich die Stadt London, das letzte Bollwerk der Engländer, an die Normannen. Im selben Jahr wird der dänische König Knut der Große zum König von England gekrönt. 1026 übernimmt dieser auch die norwegische Krone, welcher die regionalen Anführer der Wikinger in Schottland und Irland ihre Treue schwören. Bis zu dem Tod Knuts im Jahre 1035 war sein Wikinger-Imperium das größte Reich Europas. Nach seinem Tode zerfiel das Reich aber schnell und bereits 1042 übernahm mit Eduard dem Bekenner wieder ein Engländer den angelsächsischen Thron.

Im Gegensatz zu Britannien konnte sich in Irland nie eine vergleichbare Wikingermacht etablieren. Die dezentral organisierte Gesellschaft machte zu einem eine systematische Eroberung schwierig zum anderen waren die Normannen eher auf das westlicher gelegene Britannien und das Festland ausgerichtet. Trotzdem hatten die Wikinger einen nicht unwesentlichen Einfluß auf die Fortentwicklung der irischen Gesellschaft: der größte Entwicklung war zweifelsohne der Bau der großen Städte und Siedlungen, die in dieser Form bisher in Irland nicht vorkamen....

 
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